Meine kleine Einführung wird sich weniger mit den Kunstwerken beschäftigen, eher mit den Künstlern. Halle war der gemeinsame Anfang, die Ausstellung ist sehr berechtigt . . . aber kein Manthey lebt mehr hier. Im Juni 1960 beendete ich das Studium an der Burg Giebichenstein. Ich hatte wohl keine Ahnung, wie es weitergehen sollte; immerhin gab es Kontakte zu Graphikern, die für die Leipziger Messe arbeiteten und die stets Hilfskräfte brauchten (das ging tatsächlich bis 1972). Aus dieser ersten Zeit nach dem Studium gibt es keine Aufzeichnungen oder Terminkalender. Scheinbar kam ich aus Leipzig. Ich hatte damals einen Motorroller, der vor dem Bahnhof abgestellt war. Am Lenker war ein kleines keramisches Puppenköpfchen angebunden, unverkennbar Heidi Manthey. Ich mag sie damals flüchtig gekannt haben. Sie wohnte in der Talstraße im selben Haus wie der Maler Georg Pütter, mit dem ich ein wenig befreundet war und den ich gelegentlich besuchte. Er hatte auch für die Leipziger Messe geholfen, so kannten wir uns, er zeigte mir seine Bilder. Heidis kleiner Gruß fand Gegenliebe, wir wurden ein Paar. Ich war 23 Jahre, sie 31. Der Vater ihrer beiden kleinen Kinder war nach Westberlin verschwunden; immerhin noch erreichbar bis zum 13. August 1961. Da kam die Mauer.
Meine Erinnerungen sind löchrig. Wir fuhren jedenfalls einige Male nach Berlin und auch nach Westberlin, das war möglich. So lernte ich Manthey kennen. In einer großen Wohnung wohnten nicht nur er, sondern auch andere Künstler, denen es in der DDR nicht gefallen hatte. Sie hatten keinesfalls das große Los gezogen. Mir kam es eher so vor, als wären sie im Exil. Sie waren unter sich, waren eher Wartende als von der neuen Welt Begeisterte. Sie saßen da und rauchten. Die Zigaretten drehten sie selbst aus einem kräftigen Tabak, der „Paprika“ hieß. Sie rauchten viel; die Plasteleitungen, an denen zum Beispiel die Lampen hingen, waren gelb.
Manthey hatte auch ein kleines Auto, sozusagen einen Trabant auf westlich von Fiat. So fuhren wir auch einmal nach dem Osten, um Fleisch und Schnaps zu holen, damals noch durchs Brandenburger Tor. Diese Künstler waren nun in ersehnter Freiheit, aber sie waren auch frei von Geld. Stolze war auch da, auch Kilz, seltener Engel, ein Bildhauer, der in der Wohnung ein vollgestelltes Zimmer hatte. Bernhard Boes ging es vielleicht etwas besser, er hielt Abstand, und seine Frau Simone war immer fein angezogen. Die abenteuerlichen Gespräche mutierten zwischen Wahrheit und Erfindung und waren immer äußerst interessant und erfrischend. Am Rande wurde auch gestreift, dass man noch nichts gegessen hätte, und ob vielleicht man eventuell in dem Laden, der unten im selben Haus war, ein paar Spaghetti und Tomatenmark kaufen könnte. Das dauerte aber lange, ehe sich, so vielleicht um 11 in der Nacht, der Plan erdichtete und die Frage nach der Bezahlbarkeit Form annahm. Manthey
pflegte die Soße zu den Spaghetti zu machen und war der Meinung, dass sie so scharf sein müsste, dass ein Fingerhut voll für eine größere Gesellschaft reichen würde. Ich wusste, wie groß ein Fingerhut ist, damals wurden ja noch Strümpfe gestopft. Jemand musste nun erst einmal die Spaghetti holen. Wir kannten ja im Osten diese Art Läden gar nicht, die nachts alles mögliche verkauften auch „Paprika“ und immer offen waren.
So zog sich der Tag in die Länge. Man zeigte sich übrigens keine Kunstwerke. Man sprach nur davon. Literarische Abschweifungen waren häufig und, wenn Otto Möhwald dabei war, spielte Musik eine große Rolle. Er verfügte durch das Kolorieren von Kupferstichen über einiges weniges Geld, das er streng hütete, um Schallplatten zu kaufen. Er spielte mir als erster Strawinski vor und hatte große Ahnung bei gleichzeitiger Strenge seiner interpretatorischen Ansprüche. Das sonst noch Musik gehört wurde, erinnere ich mich nicht. Es wurde nur darüber geredet. Die Nächte der Wartenden zogen sich in die Länge, um dann irgendwann zu zerbröseln.
Manthey saß meist auf dem Sofa, angelehnt an ein Kissen, und so waren seine Haare immer zerdrückt und künstlerisch zerzaust. Ein Bild habe ich damals von ihm nicht gesehen. Anders Stolze, der eine eigene Wohnung hatte und aus meiner Sicht sehr feine halbgegenständliche Bilder zeigen konnte. Stolze und Kilz waren außerdem noch Dichter. Wenn Kilz Stolze zu stolz fand, dann fand Stolze Kilz zu kilz. Solche literarischen Themen konnten Stunden füllen. Dann musste neue Zigaretten gedreht werden, denn mit den Spaghetti war auch neuer Tabak angekommen.
Was wir von Hans-Jorg Manthey hier heute sehen, sind erst einmal frühe herzzerreißend schöne Zeichnungen von Kröllwitz und Giebichenstein. Heimat! Und dann Bilder aus Berlin, Westberlin, die auf irgendeine Weise sehr hallisch sind. In der Ferne haben die verstoßenen hallischen Künstler gewissermaßen einen eigenen späthallischen Stil fortgeführt, eine Sehnsucht-nach-Halle-Malerei, die uns schmerzlich erahnen läßt, wie es hätte weitergehen können. Bachmann, Kitzel, Manthey. Es sind, um in der Terminologie von Walter Ulbricht zu bleiben, herrlich farbige Grau-in-Grau-Bilder von großer malerischer Schönheit. Dass wir sie jetzt erst in Halle sehen ist tragisch und großartig.
Die Lage von Heidi Manthey war nicht einfach. In Halle war die Wohnung, da gingen die Kinder zur Schule. Heidis Keramiken waren zwar von Anfang an begehrt, aber sie musste sie ja machen. Dafür hatte ihr Hedwig Bollhagen die Voraussetzungen ermöglicht, aber nicht in Halle, sondern in Marwitz bei Velten, erreichbar von Berlin aus, durchaus umständlich. Da musste sie hinfahren, arbeiten, warten, fertige Werke abholen und . . . sie musste sie verkaufen, das war der einzige Lebensunterhalt für die kleine Familie. Ohne Geld ging es auch damals nicht. Ihre Keramiken sind wertvoll, Einzelstücke, Miniaturen, Raritäten. Das Besondere ist die Bemalung, das konnte niemand wie sie; anfangs in schwarz unter Glasur, dann hauptsächlich blau in Fayence. Die Zeichnungen nehmen Bezug zur Form der Gefäße, sie sind aber gleichzeitig eigene Kunstwerke, fein und detailreich, oft auch thematisch, mitunter mythologisch. Paris mit den drei Göttinnen, deren eine nur den goldenen Apfel bekommen kann, ist mit feinstem Pinsel aufgemalt, und, dass in der Luft noch eine Schar Vögel zusieht, scheint ganz normal zu sein. Sie arbeitet langsam wie eine Porzellanmalerin in Meißen. Ihre ästhetische Haltung ist eigen, ohne Vorbilder, eher inspiriert vom Klassizismus des 19.Jahrhunderts. Das betrifft auch die Formen, wenn es möglich war, eigene Formen zu verwirklichen, denn sie benutzt auch Rohware der HB-Werkstätten. Gelegentlich hatte sie Aufträge für Wandgestaltungen, aber
im Mittelpunkt stehen die besonderen Einzelstücke, die man sich nicht zu benutzen traut, weil sie zu schön sind.
Dass Jacob und Mareile jetzt Rentner sein sollen, erschreckt mich zutiefst. Jacobs Kinderzeichnungen und frohe Holzschnitte sind mir noch in nahem Bewusstsein. Auch, dass ich mit Mareile Schularbeiten gemacht habe. Jetzt ist sie eine Künstlerin, macht Schmuck, der andere Menschen verschönert, ist eigenverantwortlich, empfängt Kunden, berät und überredet sie und . . . arbeitet. Sie arbeitet gern! Ihr Studium begann in der Kunsthochschule Talstraße in Halle, umgeben von Künstlern hat sie Grundlagen erlernt, und sie kam nicht drumherum, auch in ihrer Arbeit hohe Maßstäbe zu setzen, künstlerische Maßstäbe. In ihrem „wunderbaren“ Atelier in Potsdam sollen auf allen Tischen
wertvolle Materialien, gefundene Sachen, Besonderheiten aller Art in kreativer Unordnung auf die Weiterarbeit zu Schmuck warten. Sie schreckt vor nichts zurück. Sie fasst Gummibärchen aus Plaste oder Glas in Gold, wenn es ihr gerade gefällt, und des gefällt nicht nur ihr. Die noblen Silberblättchen, mit denen man Mottenlöcher verdecken kann, sind eine andere skurrile Erfindung.
Hier steht sie den frühen Meissener Blumenmalern nicht nach, die die ungewollten Eisenflecke mit kleinen Insekten verdeckt haben. So entstanden Teller von unerklärbarer Schönheit.
Das alles ist verbunden mit der Fähigkeit zu freundlicher Kommunikation mit den vielen Menschen, die nun ihren Schmuck tragen. Sie arbeitet, wenn ich das mal so behaupten darf, in hallescher Tradition, mit eigenen Ideen, diszipliniert und heiter, wiedererkennbar und erfolgreich. Was sie macht gefällt ihr, sie ist ihr eigenes Modell. Das hat Sinn, sie hat ihren Weg gefunden. Mit dem Bruder verbindet sie Einverständnis. Er fragt sie um Rat, wenn er unsicher ist. Sie hätte „einen guten Blick“ und die Fähigkeit schnell zu entscheiden.
Anders Jacob. Er ist der Meister heiteren Scheiterns, man kann nie ahnen, wie es weitergeht. Er debütierte als Fremdenführer in Bad Lauchstädt, seine Phantasie wurde ihm fast zum Verhängnis. Artistenclown ist er nicht geworden, auch nicht Schauspieler. Fast wäre er Filmregisseur geworden, vielleicht auch Kameramann. Als Standfotograf ist er gescheitert wegen seiner Unfähigkeit,
soviel Alkohol zu trinken, wie das nun eben bei so einer Tätigkeit nötig ist. Als Immobilienmakler geriet er in moralische Konflikte. Sein attraktives Aussehen, sein Auftreten, das den Eindruck großer Fachkenntnisse vermuten lässt, und sein natürlicher Charme führten zu Erfolgen, die er dann selber bedenklich fand. Als er auf dem Höhepunkt des Maklergeschäfts angekommen war, fand er es öde.
Wie immer in seinem Leben ergaben sich andere günstige Gelegenheiten mit der Herstellung von Image-Filmen und Musikvideos. Auch hier genügte er sich nicht, und so wurde er Journalist, ja vielleicht sogar Schriftsteller, der Autor unveröffentlichter Geschichten. Er kann viel. Er ist und bleibt neugierig, und all die Sachen, die nebenbei nun doch in großer Menge entstanden sind, ergeben ein eigenständiges vielseitiges Gesamtwerk, in das wir heute erste Einblicke genießen dürfen, einen winzigen Ausschnitt aus seinem photographischen Werk.
Beruflich oder privat, er war Weltreisender. 50 x Südostasien, Kambodscha, China, Vietnam; Portugal, Polen, Marokko, Namibia; Mittelamerika, Curacao, Trinidad, New York; Europa, Bologna, Halle, um nur einige Ziele zu nennen. In Südamerika und Russland war er allerdings nicht. Er photographiert mit wachem Auge: Skurriles, Ungewöhnliches, Tragisches, Schönes. Alle Photos sind interessant. Es sind keine Schnappschüsse. Er wartet auf den besonderen
Augenblick. Immer sind es Inhalte, die ihn interessieren, Momente , die er zeigen möchte, damit wir die Welt kennen lernen und besser verstehen. Natürlich hat er auch Sinn für die ästhetische Schönheit des Bildes, aber das ist nicht sein Thema, sein Thema ist das Leben.
Die vier Künstler stellen heute zum ersten Mal gemeinsam aus. Das war eine gute Idee. Sie werden sich selbst wundern, wie bei aller Verschiedenheit doch eine gemeinsame Sprache sichtbar wird.
Dank den Künstlern, Dank der Galerie! Es gibt etwas zu sehen!