DER SCHERBENHAUFEN

 

Jede Vase ist sinnlos. Antje Scharfes Interesse an der Produktion von keramisch geschützten Hohlräumen ist erloschen. Die Sache mit dem konkreten Nutzwert wird nicht weiterverfolgt. Alles was in Keramik eingefüllt werden kann, wie: Blumenwasser, Tee, Kakao, Pflaumenmus, Schlagsahne, Karamellbonbons, diverse Salben, Pillen oder Asche. Es gibt genug Bevorratungsgefäßen von ihr. Der Verzicht auf das Volumen bedeutet, dass ihre Keramik immer öfters mit zwei Maßangaben auskommt. Höhe & Breite.

Der Abschied vom rationalen Objekt verlagert die Bedeutung. Die Erzählung ist die Funktion. Das Dekor, das Bild auf dem Scherben – die eigentlich schmückende Zugabe wird zu dem Wichtigeren. Die Form folgt dem Bild. Die Bemalung hat sich verselbstständigt. Antje Scharfe malt, zeichnet, collagiert. Die schwarzweisse Graphik ist ihr Markenzeichen.

Sie schafft Bildobjekte aus Steingutschlicker und Knochenporzellan. Stilleben aus flachen gegossenen Silhouetten. Sie lässt das Material laufen. Attrappen der Realität. Wer über den Platz verfügt, verfügt über das Leben. Kunst ist ein Raumproblem. Antje Scharfe minimiert die Probleme. Die Keramik verschwindet. Das Arrangement erzählt die Geschichte.

Antje Scharfe arbeitet mit Schichtungen und Staffelungen, mit Abbildungen von Gefäßen auf Gefäßsilhouetten. Sie stellt dünnen Wände senkrecht hintereinander. Vasen, Kannen, Tassen, Schalen sind auf keramische Schattenrisse reduziert. Das Licht scheint durch das Porzellan. Das ist eine Augentäuschung mit Fortsetzungen. Eine Zartheit, die Beschützerinstinkte beim Betrachter weckt. Die Silhouetten überziehen sie mit Mustern aus Blüten, Südfrüchten, Laubranken, Gräsern, Fischen, Netzen, Spitzenklöppelei und Sternen. Die Bilder gehen über in Schlieren, Glasurnasen, Kleckse und Aussprengungen.

Welchen Zweck haben keramische Silhouettenservice. Wer fragt hat schon verloren.

Das sind Erinnerungsstücke mit freien Bezügen. Souvenirs des Alltags. Platzhalter verwischter Ereignisse. Reduziertes Repräsentationsobjekte. Erinnerungen an das zerschlagene gute Porzellan. An die Familientafel. Da klebte immer die Angst vor der Benutzung daran. Die Silhouettenplatzhalter befreien von dieser Angst. Da muß sich nicht die ganze Familie drum kümmern. Das sind Objekte für Singlehaushalte in denen jeder Tag ein wenig Sonntag ist. Und es steckt die Aufforderung dahinter: passt auf die Dinge auf. Aber bitte nicht kaputt putzen. Das wirkt alles fragiler als es ist. Die gegossenen Flächen sind erstaunlich formstabil. Und der Staub, der sich irgendwann ansammelt, ist nur die nächstmögliche Formmasse.

 

Scherben bringen Glück. Nichts kommt weg. Die Frau kann nix liegen lassen, freut sich wie ein Kind, wenn sie alten Keramikbruch findet oder ihr ein Haufen Ofenkacheln geschenkt wird.  Das hat wohl mit der Erkenntnis zu tun, dass der normale Zustand der Keramik der gebrochene Scherben ist. Von Allem was in der Geschichte bisher getöpfert wurde ist das Meiste jetzt kaputt. Geschreddert von den Zeitläufen. Auf den ersten Blick nur noch Schutthaufen. Ein sehr schwer lösbares Puzzle. Aber es bleibt immer noch genug übrig, um ganze Epochen über Dekor, Randscherben und abgebrochene Henkel zu definieren.

Aus Bruchstücken, Unnützen und Unbrauchbaren baut Antje Scharfe ihre Simulationen von Puppenhäusern, Kleinst-Wunderkammern, Reliquienschreinen, Andachtsecken, Herrgottswinkeln und Miniatur-Zen-Gärten mit Opfergaben. Aus den Fundstücken inszeniert Antje Scharfe Miniaturtheater in den Innenwülsten von gebrauchten Ofenkacheln.

Barocke sechseckige Bodenfliesen sind Grundkörper aus denen sie Variationen von Gefäßideen zaubert. Die Fliesen haben Gewicht. Ihre Schwere sollte sie im Boden halten. Das Sechseck gleicht die Differenzen der Fliesen im Bienenwabenmuster leicht aus. Das ist die populärste Verbindung des Organischen mit der Geometrie. Die Serie von Kannen- und Vasen-Attrappen sind freie Collagen. Die Fließen sind schwere Brocken, denen Leichtigkeit gegeben wird. Sie sind sichtbar rau und verwittert oder mit Glanz nachglasiert. Auch hier eine leichte Lakonie in der Verwendung von Glasuren und Heißkleber und Ergänzungen mit Papier und Pappe. Als wäre die Objekte nur eine Zwischennutzung. Aber einen Namen tragen sie alle.

 

Antje Scharfe arbeitet mit Modellen, Attrappen, Simulationen und Scherbenhaufen. Manches mutet an wie rekonstruierte Tatorte der Verwüstung. Sie arbeitet mit Flachwahre, reduziert die Keramik auf einen Bildträger. Nicht das Objekt oder der Raum, den das Objekt einnimmt, sind relevant, es geht eher darum einen Bereich gesellschaftlicher Interaktionen zu definieren. Dass sie damit in der Mitte des Mainstreams schwimmt ist nicht berechnet, das ist die Folge ihres Bezugssystems in der Tradition der Burg Giebichenstein, mit derer soliden Tradition und mit ihren Lehrerinnen. Die Dekonstruktion des Überkommenen war immer schon Programm dieser Klasse und von der großen Marguerite Friedlaender und Gerdraud Möhwald so auch immer eingefordert.  Und es gab immer Bildhauer und Maler, die keramisch arbeiteten an der Burg, wie Gerhard Marcks, Karl Müller, Charles Chrodel und als Seiteneinsteiger inspirierten.

 

Antje Scharfe baut entspannte Arbeiten. Nirgends reingezwungen in eine Form. Sie liebt den Zufall und hat keine Furcht vor Instabilität und Fragilen. Vasen brauchen Flügel, und jeder Teller ist eine Maske. Das ist auch eine Lehre, die zum Glück immer mehr von ihrer ehemaligen Klasse, die sie als Professorin an der Burg geleitet hat, angenommen wird.

Rüdiger Giebler am 10. Juni 2023

Biografie

Antje Scharfe wurde 1953 in Berlin geboren, machte 1972 das Abitur an einer Spezialschule in mathematischer Richtung. Bei verschiedenen Tätigkeiten, unter anderem in den HB-Werkstätten für Keramik, dem Berliner Büro für Kulturtage und internationale Gäste sowie im Klinikum Berlin-Buch entschied sie sich nach einer Ausstellung von Gertraud Möhwald für ein Studium der Keramik an der Burg Giebichenstein (damals Hochschule für industrielle Formgestaltung) in Halle (Saale).Nach dem Studium mit Abschluss als Diplomkünstler 1979 machte sie ein Aufbaustudium an der Hochschule für Angewandte Künste UMPRUM in Prag.Seit 1981 arbeite sie vor allem freiberuflich in ihre Werkstatt in Zepernick bei Berlin.Kurze Lehraufträge, zahlreiche Symposien, Reisen, Zusammenarbeit mit Architekten und Künstlerkollegen waren wichtig. 1999 wurde sie als Mitglied des AIC (Internationale Akademie für Keramik) aufgenommen.Von 1994 bis 2007 war sie wieder an der Burg Giebichenstein – Hochschule für Kunst und Design Halle. Sie leitete dort die Fachrichtung Plastik/Keramik. Seit 2007 kehrte sie wieder nach Zepernick zurück. Es wird ausgeflogen in die Welt der Kollegen überall. Freiräume für Eigenes und neue Anstöße gab es vor allem in den USA, in Australien, Osteuropa und Asien.

Arbeiten in öffentlichen Sammlungen

Keramikmuseum, Fuping (China) | SCCP-Museum, Shgaraki (Japan) | Berliner Keramikmuseum | Kunstgewerbemuseum Berlin-Köpenick | Grassimuseum Leipzig | Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg | Aleš-Galerie Bechyně, Tschechische Republik | KERAMION Frechen | Sammlungen der Veste Coburg | Schloß Cottorf Schleswig | Staatliches Museum Schwerin | Märkisches Museum Berlin | Sammlung „Keramik International“ Römhild | Stadtgalerie Kiel | Museum der Stadt Plzen, Tschechische Republik | Sammlung University of Hawaii | Kennedy-Museum Athens, USA | Keramikmuseum Westerwald Höhr-Grenzhausen | Staatliche Galerie Moriztburg Halle | Hetjensmuseum Düsseldorf

 

Arbeitsaufenthalte auf Einladung als Künstler und/oder Lehrer

1983 Römhild, DDR

1989 Kiel, BRD

1990 Karlovy Vary, CSSR

1991 Horni Slavkov, CSSR

1992 Pennsylvania, USA

1993 Römhild, BRD

1994 Ohio und Michigan, USA

1996 Kunsan, Südkorea

1997 Nevada und Wyoming, USA

1998 Hawaii, USA

1999 Ohio, USA

2000 Pensylvania, Michigan, North Carolina, USA

2002 Canberra, Australien

2006 Bechynĕ, Tschechische Republik

2008 Fuping, China

2017 Jerusalem, Israel

2018 Shigaraki, Japan

„Wenn ich sage, dass ich Keramik mache, spüre ich deutlich, wie bei meinem Gegenüber ein Bild entsteht. Da steht: Der Topf – eisenbraun, rund, hohl und nützlich, erst Töpfermarkt, dann Küche. Ich füge an: ‚Ich mache auch Porzellan‘. Das Bild ändert sich: Unnütz, fein, vielleicht Kobaltblau oder Gold, Luxus für die Vitrine.“